In meiner Kindheit schien die Zeit geradezu still zu stehen. Mit den Jahren änderte sich das. Die Zeit schien immer schneller zu verstreichen. So als würden die Lebenszeit einem Rennwagen entsprechen, der immer mehr beschleunigt. Doch warum ist das so? Warum haben die meisten Menschen das Gefühl, dass im Alter die Jahre im Flug vergehen?
Eine Kontemplation sollte diese Frage für mich lösen.
Auf dem Weg zu meinem Meditationsplatz im Wald laufe ich barfuss. Manchmal stimme ich mich bereits beim laufen auf die kommende Meditation ein. Ich konzentriere mich dann auf meine Atmung oder auf meine Füße. Achte beispielsweise auf die Temperatur oder die Empfindungen, die Steine beim darauf treten auslösen. Doch es gibt auch Tage, an denen ich meinem Unterbewusstsein gestatte, mich zu beschäftigen. Ich plane, erinnere oder phantasiere dann vor mich hin.
Dabei fiel mir ein Phänomen auf. Konzentriere ich mich auf meine Füße oder meinen Atem, scheint die Zeit still zu stehen. Der Weg nimmt dann gefühlt eine Ewigkeit in Anspruch. Gestatte ich meinem Unterbewusstsein mich zu beschäftigen, vergeht die Zeit rasend schnell. Das kann so weit gehen, dass ich verwundert bin, wo ich mich bereits befinde, sobald mein Blick sich nach Aussen wendet.
Die Zeit scheint also dann für uns schnell zu vergehen, wenn wir unserem Unterbewusstsein gestatten uns zu beschäftigen. Wir planen, denken, erinnern, fürchten, amüsieren oder träumen dann. Den meisten Menschen fällt dieser Prozess nicht mehr auf. Sie machen sich unbewusst die Gedanken des Unterbewusstseins zu eigen und folgen ihnen.
So scheint es für viele Menschen normal zu sein, auf einem häufig zu fahrenden Weg nicht realisiert zu haben, wie sie so schnell an einen bestimmten Abschnitt des Weges gelangt sind. Sie sind einfach den Verführungen ihres Unterbewusstseins auf den Leim gegangen. Das hat dann auch gleich automatisiert die Fahrt übernommen. Der Fahrer hat dadurch von seinem äusseren Umfeld nicht wirklich viel wahrgenommen.
Als Kind ist die äussere Welt für uns noch ein Abenteuerspielplatz. Wir richten unseren Blick nach aussen und harren gespannt der Dinge, die wir entdecken können. Mit zunehmenden Alter glauben wir alles bereits zu kennen. Noch gravierender, ergänzen wir einen Großteil der äusseren Wahrnehmung durch bereits gelernte Muster. Nun könnte man glauben, dass es in diesem Zustand eine Menge Langeweile geben müsste. Doch weit gefehlt. Denn das Leben besteht nun nicht mehr aus der aufmerksamen Betrachtung unserer Umwelt, sondern aus einem rund um die Uhr ablaufenden Kopfkino. Und dabei vergeht die Zeit wie im Flug. Ähnlich wie bei einem fesselnden Film im Kino oder TV, nur dass dieser Film durch unser Unterbewusstsein in Gang gesetzt wird und wir glauben, die Handlung zu bestimmten.
Man könnte treffend schreiben, dass die meisten Erachsenen fortwährend träumen. Ihr Tagtraum unterscheidet sich nur in einem einzigen Punkt von ihrem nächtlichen Traum. Er bildet keine fortwährende Handlung.
Die Zeit vergeht also im Alter schneller, weil es für uns augenscheinlich nichts neues mehr zu entdecken gibt. Doch das ist ein Trugschluss. Wir müssen nur lernen, alles immer wieder aufs neue genau und unvoreingenommen zu betrachten. Schnell wird sich zeigen, dass alles einer permanenten Veränderung unterworfen ist. Und so ist jeder Augenlick in unserem Leben einzigartig. So laufe ich beispielsweise jeden Tag den selben Weg zu meinem Meditationsplatz. Doch in Wirklichkeit ist es allenfalls der gleiche Weg, keinesfalls der selbe Weg. Steine liegen anders, Pflanzen haben sich verändert. Die Temperatur ist anders. Die Feuchtigkeit. Die Härte des Wegs. Ja selbst ich habe mich verändert.
Konzentriere ich mich auf diese Verändrungen und schaue mir die Dinge unvoreingenommen und genau an, beginnt die Zeit sich zu entschleunigen. Wir haben es als Erwachsene also durchaus in der Hand, unser Leben langsam und aufmerksam zu begehen oder es an uns vorbeiziehen zu lassen.
(363 mal besucht, 1 mal heute)
Karlito meint
Danke Kai dass Du Dir die Zeit nimmst Deine Empfindungen hier aufzuschreiben. Ich lese Deine Zeilen mit grosser Aufmerksamkeit, Sie berühren mich tief.