Was bedeutet es zu leiden? Leidet jeder Mensch? Und wenn ja, gibt es einen Weg, sich vom Leid zu befreien? Und wenn es diesen Weg gibt, kann ihn jeder gehen, oder braucht es dazu eine besondere Begabung?
In meinen angebotenen Meditationen finden sich immer wieder Menschen ein, die von körperlichen oder seelischen Leid befreit werden wollen. Sie fragen dann, ob sie sich von ihrem Leid durch die Meditation befreien können. Ich antworte ihnen meist mit einem Gedicht des mystischen Dichters Kabir.
Mein Freund, bitte sag mir, was ich tun kann, mit dieser Welt, an der ich so festhalte.
Es dreht sich einfach immer weiter
Ich gab ein paar Klamotten auf und trug ein Mönchsgewand.
Aber eines Tages bemerkte ich, wie gut das Tuch gewebt war.
Also kaufte ich mir Sackleinen. Allerdings werfe ich es noch immer elegant über meine linke Schulter.
Ich entsagte meinen sexuellen Sehnsüchten und entdeckte, dass ich seither sehr wütend war.
Ich gab die Wut auf und merkte dass ich den ganzen Tag gierig bin.
Ich habe hart daran gearbeitet, die Gier aufzulösen und jetzt bin ich stolz auf mich.
Wenn mein Geist seine Anhaftung auflösen will, hält er immer noch an einer Sache fest.
Kabir antwortet: “Hör zu, mein Freund. Es gibt nur wenige, die diese Erkenntnis gewinnen.
So lange Du also mit einem Wunsch oder einem Ziel meditierst, wirst Du immer an etwas anhängen. Denn die Wahrheit ist, alles ist bereits in Dir und vorhanden. Einzig Du hast es noch nicht erkannt. Die Meditation ist ein Werkzeug der Erkenntnis. Ein Tool, das Dich aus Deinem Traum aufweckt. Denn mit unseren vorgefertigten Bildern im Kopf, unterscheidet sich das Leben nicht vom Traum. Der einzige Unterschied ist, dass das Leben der Menschen in einem fortlaufenden Traum stattfindet, der ihnen die scheinbare Relität suggeriert.
Jeden Augenblick beschäftigt Dich Dein Geist. Er plant, sorgt sich, denkt, phantasiert, wünscht, analysiert, urteilt, oder erinnert sich.
Zwei Mönche gingen einst einen Fluß entlang. Dabei trafen sie eine Frau. Sie bat die Mönche, sie über den Fluß zu tragen. Den Mönchen war es verboten, eine Frau zu berühren. Dennoch nahm sie der ältere Mönch auf die Schultern und trug sie über den Fluß.
Drei Stunden später fragte der jüngere Mönch. “Weisst Du denn nicht, dass es verboten ist, eine Frau zu berühren?” Du hast sie über den Fluß getragen. Darauf antwortet der ältere Mönch. “Ich habe sie über den Fluß getragen, Du trägst sie jedoch seither mit Dir herum.”
Eine andere Geschichte erzählt von zwei Flüchtlingen.
Beide sind drei Jahre zuvor einem Kerker entflohen, in dem Sie durch ihre Wärter gequält wurden. Der eine Flüchtling fragt den anderen Flüchtling, ob er sich noch an den Kerker erinnern würde. Der antwortet: “Selbstverständlich. Wie ich diese Wärter hasse, für das was sie mir angetan haben.” Darauf antwortet der andere Flüchtling: “Nun, dann bist Du noch immer in ihrem Kerker.”
Diese Geschichten zeigen Dir, wie Leid zustande kommt. Unser Geist sorgt für das Leid. Während Du Dich über Deinen Nachbar aufregst, Dich innerlich mit Hass zermürbst, liegt der vielleicht nichts ahnend am Strand von Thailand und lässt es sich gut gehen.
Du fragst, ob das alles ist, worum es geht? Schliesslich hast Du nicht das Gefühl, auf diese Weise zu leiden. Doch Leid erfährt jeder Mensch, der der Illusion unterliegt, er könnte etwas in dieser Welt festhalten. Eine schöne Beziehung, die Jugend, das eigene Aussehen, materiellen Reichtum oder das Leben selbst. Verlust, Alter, Krankheit und Tod. All das begleitet das Leben. Und somit erfährt jeder Mensch Leid.
Würde Dich Meditation von diesem Leid befreien? Ja, das würde sie. Denn durch die Konzentration und Öffnung Deiner Sinne für die Realität, würdest Du erkennen, dass alles im Fluss ist. Du erkennst, dass es kein Selbst gibt, auf dass Du das Leid beziehen könntest.
Wie Du Dir das vorstellen kannst? Stell Dir vor, Du bist ein Kind am Strand und baust eine Sandburg. Du fieberst mit den Wellen mit. Hoffentlich kommen sie nicht zu nah an die Burg. Du freust Dich über die Erfolge beim Bau und trauerst über Zerfall und Zerstörung. Du sorgst Dich, ob die Wellen die Sandburg erreichen und hinfortschwemmen oder jemand sie zertritt. Dein Handeln schafft Dir Freude und Leid.
Und nun stell Dir vor, Du bist ein erwachsener, unbeteiligter Zuschauer, der das Geschehen betrachtet. Du geniesst den Moment, doch teilst Du nicht die Sorge und das Leid. Dir ist bewusst, dass diese Burg zerfallen wird. Und das bereits bei der Entstehung. Doch Du besziehst es nicht auf Dich.
So lange Du einen Wunsch verspürst, ein Ziel verfolgst, oder an ein unveränderliches Selbst glaubst, wird Dir Meditation nicht helfen. Du wirst immer wieder, wie es Kabirs Gedicht zeigt, an etwas anhaften.
Daher solltest Du alle Wünsche fallen lassen, meditieren und Dich überraschen lassen, was passiert.
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Schön.. danke ??♂️